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Fastenzeit 2020

nimm + lies 289

Unser neues "nimm und lies" liegt aus. Hier könnt ihr es herunterladen.
n+l 289 downloaden

Liebe Leserinnen und Leser,

Was halten Sie von »Ungewissheit«? Gehören Sie eher zu den Menschen, die in einer offenen Situation eine Chance sehen – oder eine Bedrohung? Macht es Sie nervös, wenn etwas offen bleibt? Oder gibt Ihnen das erst Energie?

Ungewissheit gehört wahrscheinlich zum Leben dazu, seit Menschen in der Lage sind, über sich, ihre Umwelt und ihre Gefahren zu reflektieren. Ungewissheit dürfte immer etwas Bedrohliches gewesen sein, etwas, das auf die Zerbrechlichkeit und Gefährdung des Lebens verwies. Vielleicht kann man die Geschichte der Menschheit als eine Niederschrift der Versuche lesen, Ungewissheit zu reduzieren. Mit der modernen Gesellschaft, ihren technologischen und naturwissenschaftlichen Fortschritten dürften zumindest einem Teil der Menschheit, zu dem auch wir gehören, einige schwerwiegende Existenzsorgen genommen sein, die das Leben unserer Vorfahren stark belasteten: Die Lebenserwartung der Menschen steigt weltweit, technische Lösungen ermöglichen, so viele Lebensmittel wie noch nie zuvor zu produzieren, Algorithmen optimieren Systeme und steigern die Produktivität. Wir können unsere Aufmerksamkeit also auf anderes richten, ohne dass unsere physische Existenz von der nächsten schlechten Ernte bedroht ist.

Und doch werden wir sie einfach nicht los, diese Ungewissheit. Im Gegenteil sogar: Unzählige Menschen sind weltweit auf der Flucht und schauen einer ungewissen = bedrohten Zukunft entgegen. Werden wir in der Lage sein, unsere technologischen Fortschritte der letzten 200 Jahre fortzusetzen ohne ihre »Nebenfolgen« zu verstärken? Wird der Populismus weiter auf dem Vormarsch sein und der Egoismus der Staaten die weltweite Solidarität besiegen? Wie wird es bei uns weiter gehen? Wie lange noch wird das Gesundheitssystem funktionieren? Wie werde ich im Alter versorgt werden? Kann ich mir das überhaupt leisten? Was passiert nach dem Tod?

Aber es sind nicht nur diese offensichtlichen Fragen, die uns schlaflose Nächte bereiten. Vielmehr gehört zur modernen Gesellschaft die Ungewissheit dazu – wie der Soziologe Thorsten Bonacker in unserem Fastenkurs ausführen wird: Wenn meine Zukunft nicht durch Geburt festgelegt ist, kann man etwas wagen. Ich kann Unternehmergeist zeigen und vielleicht der nächste Bill Gates, die nächste Marie Currie werden. Die Demokratie ist ohne Ungewissheit nicht denkbar – denn welchen Sinn hätte es, zur Wahlurne zu gehen, wenn man schon weiß, wie die Wahl ausgeht. Ungewissheit bekommt so einen positiven Akzent – einer der mich einlädt, aufzubrechen und gegen Widerstände anzukämpfen, um ein glücklicheres Leben zu führen. Ungewissheit ist so gesehen, um es mit der deutschen Band »Tomte« zu sagen, »die Schönheit der Chance, dass wir unser Leben lieben, so spät es auch ist«.

Es sind Fragen wie diese, die uns in unserem diesjährigen Fastenkurs beschäftigen werden, die dem Phänomen der Ungewissheit in Liturgien, Performances und Vorträgen auf der Spur sind. Wir werden uns in den Tiefen des Alls bewegen, genauso wie wir uns mit dem Drama beschäftigen, dass unzählig viele Menschen auf der Flucht erleben. Wir spüren der Frage nach, ob und wieviel Ungewissheit der Frieden benötigt und werden so miteinander in die Fastenzeit eintreten.

Wir freuen uns darauf, mit Ihnen diese intensiven ersten Tage der Fastenzeit bei uns in der Kirche zu verbringen, und wünschen Ihnen eine gesegnete Zeit hin zum Osterfest.

Euer/Ihr Br. Carsten OSA